Raffinierte Innenschau

Live-Premieren-Stream aus den Münchner Kammerspielen.
Dass Menschen sich wieder in einem Raum treffen, um gemeinsam ein Stück anzuschauen, darauf freut sich schon Bernhard Mikeska. Wie alle Theatermacher sah sich auch der Regisseur des in Zürich und Berlin stationierten Kollektivs Raum + Zeit seit dem vergangenen Frühjahr mit erschwerten Bedingungen konfrontiert. Aufführungen, etwa von dem auch in Bregenz gezeigten „Antigone :: Comeback“, wurden abgesagt, doch es konnten auch neue Projekte realisiert werden, informierte Mikeska im Gespräch: Ein Audio-Spaziergang zu Thomas Manns „Tod in Venedig“ feierte in Berlin im April Premiere. Und auch jenes Stück, das im November auf die Bühne der Münchner Kammerspiele hätte kommen sollen, handelt von dem zuweilen beinahe gottgleich gesehenen Literaten und seiner Familie. Das Bühnenstück „Gespenster. Erika, Klaus und der Zauberer“ wurde nun in eine filmische Version überführt: Ein Versuch, sagt Mikeska, der sich in seiner eigenen Qualität zwischen Theater und Film befindet.

Es war eine Live-Premiere, die den Zuschauer am Mittwoch erwartete – ein Punkt, der dem Theater eigen ist. Auch das Spiel der Schauspieler, der direkte Blick in die Kamera, verbunden mit einem eindrücklichen Hör-Erlebnis über den Kopfhörer ließ den Betrachter gefühlt in einen gemeinsam geteilten Raum eintreten. Filmische Mittel wurden ebenfalls eingesetzt. Fünf Kameras hielten das Ereignis in der Münchner Therese-Giehse-Halle fest, durch einen raffinierten Ablauf konnten dabei zwei Erzählstränge auf einmal erzeugt werden. Der Zuschauer entschied beim Ticketkauf, auf welcher „Tribüne“ er Platz nehmen möchte.
Projektionen
Kinematografische Komponenten und Begriffe – Mikeska nennt das Objektiv und die Projektion – dienen in diesem Projekt offenbar als Instrumente für eine komplexe psychologische Innenschau, werden in diesem Spiel doch manche Figuren selbst zur Projektionsfläche. Vier Darsteller befinden sich zuerst in jeweils einem von vier Glaskästen, die sich in ein Labyrinth im Inneren eines Menschen verwandeln: Erika Mann. Doch so einfach ist es ob der Vielschichtigkeit dieses Werks, für das Lothar Kittstein einen virtuosen Text verfasste, dann doch nicht. Die Zuschauer tauchen außerdem ein in „Der Tod von Venedig“, wenn sich der alternde Schauspieler Aschenbach (grandios wie seine Kollegen: Jochen Noch) von seiner Tochter einen jungen Mann beschaffen lässt. Zum leidenschaftlich ersehnten wie gefürchteten körperlichen Akt kommt es jedoch, wie in Manns Novelle, nicht.
Schuld
Im Zentrum steht die Personenkonstellation um die Tochter des „Zauberers“, wie der beinahe abwesend bleibende Über-Vater Thomas Mann genannt wird. Svetlana Belesova ist jene Erika, die 1969, kurz vor dem eigenen Tod, das Erbe des Vaters in der Villa in Kilchberg bewacht. Wie real sind dann „Bruder“ (Bernardo Arias Porras) und „Schwester“ (in einer Dreifachrolle: Katharina Bach), die vor dem Haus auftauchen, weil sie Klaus Manns Stück „Geschwister“ verfilmen wollen? Sind sie „Gespenster“ aus der Vergangenheit, die aus der schmerzlichen Schuld Erikas erwachsen sind? Klaus Mann nahm sich 1949 in Cannes das Leben, seine Eltern und die Schwester reisten – sie waren gerade auf einer Vortragsreihe in Stockholm – nicht zur Beerdigung an. Mit der berührenden Versöhnung am Ende dieses Abends vereinen sich auch die verschiedenen „Erikas“.

Einen Vorteil hat die Corona-Pandemie mit all seinen Krisen und Beschränkungen doch: Die aus der Not entstandene Produktion bringt ein Stück hochwertiges Film-Theater mit ausgezeichneten Schauspielern ins Wohnzimmer – und das muss sich auch nicht unbedingt in München befinden.
„Gespenster. Erika, Klaus und der Zauberer“ von Raum + Zeit. Weitere Streams der filmischen Version sind geplant und werden von den Münchner Kammerspielen
per Newsletter bekannt gegeben. Infos: www.muenchner-kammerspiele.de.