Weihnachten 1927, 1937, 1941

Brigitte Walk präsentiert eine Geschichte von Ilse Aichinger.
Weihnachten war fast nie halbwegs in Sicht und selten ganz vorbei, mittlerweile gehört es zu den abgelegenen Suchtmöglichkeiten. Ob alternativ längst beiseite gelassen oder leicht parodiert – es ist nicht einmal leicht verstaubt und als Suchtmöglichkeit längst hinfällig. […] Aber welche Alternativen gibt es zu den Farcen, die nicht mehr gespielt werden? Dass keiner mehr danach fragt, weckt das Interesse. Auch den Reiz, vergangene Augenblicke wieder zu definieren, die wenige Zweifel brauchen konnten, nicht einmal wohltätige Zweifel.
Mit den Jul-Bräuchen, wie sie ziemlich rasch hießen, ging es 1927, 1937, 1941 und danach immer weiter aufwärts, wenig konnte sie bremsen.
Max Ophüls schreibt dagegen, dass sein Vater zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einiges Christliche akzeptierte, einen Christbaum gab es in Saarbrücken und Umgebung für Ophüls nicht. Bei uns – ziemlich außerhalb des Rheingaus – galt der Christbaum als unvermeidbar. Und nicht nur für unseren Vater, der mit einem Christbaumhändler in Linz befreundet war, der wenig verlangte, sondern auch für unsere Großeltern im dritten Wiener Bezirk, wo die christlichen Religionen am Rand blieben.
Unser Vater kaufte ihn, darunter ein helles Christbaumkreuz, um das Ganze standfest zu machen, Engelshaar, Kerzen und eine gläserne Spitze, und ging danach ins Café, rauchte zwei Zigarren, trank ein Glas Most, das er auch nicht bezahlte, brachte den Baum nach Hause und begann ihn zu schmücken, nahm dazwischen immer wieder Abstand und sah ihn an. Die Fenster an der Bürgerschule gegenüber, wo er unterrichtete, waren angenehm dunkel. Nichts störte ihn, wir waren noch rasch mit dem Kinderfräulein, das nicht sehr viel später mit akuter Schizophrenie in die Linzer Irrenanstalt eingeliefert wurde, zur Donaubrücke geschickt worden, die Linzer Landstraße mit den geschmückten Schaufenstern entlang und wieder zurück. Mittlerweile war es fast soweit. Mitzi Hammerdinger, die aufräumte und zu unserem Vater gnädiger Herr sagte, war heimgegangen, die weiß und golden verpackten Geschenke lagen unter den fast zu großen Zweigen und die Linzer Kirchen läuteten Weihnachten ein. Die Einkäufe waren gelungen, der Baum stand unbezahlt im Salon. Das hellblaue Buch von Hatschi Bratschi und seinem Luftballon lag unverpackt darunter, niemand sang Stille Nacht. Dabei blieb es auch Jahre später. Vor allem auch bei den immer niedrigeren und immer billigeren Christbäumen. Sie standen für alles und vor allem für fast alles.

Am Weihnachtsabend 1937 kämpfte ich wieder um einen Weihnachtsbaum, diesmal in Wien, und die Christbaumsucht der Wiener kannte schon damals wenig Grenzen. Ich lief von der Hohlweggasse in die Wohllebengasse, die leider nur so ähnlich klang, und zum Karlsplatz, wo vor der Kirche von Fischer von Erlach noch einige letzte armselige Bäume im nassen Schnee lagen – den letzten bekam ich, ich musste fast nichts bezahlen, und brachte ihn heim. Im ersten Stockwerk blieb ich einen Augenblick stehen und musterte meinen Baum: er sah hilfebedürftig aus, aber er gehörte mir. „Unregelmäßig“, bemerkte unsere Mutter. „Es geht, es geht“, sagte ihre ältere Schwester. „Unglaublich“, sagte unsere Großmutter.
Ich hatte ihn wirklich bekommen, er roch nach Harz, und wir trugen ihn in den Salon, er gehörte dazu und schien sich auch so zu fühlen. Ich holte die Schachtel mit Stopfwolle, die wir ihr jedes Jahr zu Weihnachten schenkten und die diesmal in Goldpapier gewickelt war, aus dem Versteck und legte sie darunter. „Es war Zeit“, sagte unsere Großmutter. Danach spielte unsere Mutter auf dem Bösendorfer-Flügel „Alle Jahre wieder“, „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“. Danach einige Lieder von Hermann Leopoldi und einige selbstkomponierte Schlager.
Von heut auf morgen kann sich was ändern“, hieß der Lieblingsschlager meiner Großmutter. Meine Mutter hatte ihn unter einem Männernamen an eine Schlagerzeitschrift geschickt und war ehrenvoll erwähnt worden. Jeder von uns, der bisher nicht an sich geglaubt hatte, war vorübergehend geheilt.

Es war der letzte Christbaum in der Hohlweggasse, bevor die Wohnung arisiert wurde; er stand noch still und desinteressiert im kalten Erker und weckte keine andere Sucht als die nach seiner Präsenz, die wir nicht für verbürgt hielten. Jedes Jahr danach gab es noch einen Christbaum, aber keinen Erker mehr.
Und als das Jahr 1941 zu Ende ging, setzte für Einige – so wenige waren es nicht – die letzte Chance für einen Christbaum ein. Bäume gab es genug: vor der polnischen Kirche, vor der böhmischen Kirche, auf dem Karlsplatz, aber alle Plätze waren erstaunlich rasch leergeräumt. Die meisten Christbaumhändler waren aus dem dritten Bezirk verschwunden, und man musste deshalb aus der Hohlweggasse in die Nähe der Wohllebengasse überwechseln. Der Gleichklang hatte an den Ferienenden schon Taxichauffeure zu Umwegen verführt, diesmal waren es die Christbäume.
Vor der Karlskirche lagen noch dürre Fichtenzweige, eine Christbaumspitze und eine verbogene Fichte im aufgetauten Schnee. Vor den Säulen von Fischer von Erlach sahen sie noch griffbereiter aus, ich nahm sie rasch und ließ keinen Zweig liegen. Noch einmal war das Unerreichbare erreichbar geworden.
Wie manche der Verfolgten Judensterne horteten und den Zwirn, um sie an ihre Mäntel zu nähen, versuchte ich Fichtenreisig zu horten, Weihnachtsstämme gab es nirgends mehr. Dass sie zu wenig alternativ waren, hätte mich nicht weiter gestört: aber sie führten in die Irre.
Zur Person
Brigitte Walk
geboren 1960 in Feldkirch, ist Schauspielerin und Theaterpädagogin. Ausbildung am Theater an der Wien und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Nach theaterpädagogischer Arbeit am Landestheater freie Arbeiten und Projekte. Gründerin und Leiterin von www.walk-tanztheater.com.
Fragil und mehrdeutig
Brigitte Walk zur Auswahl ihrer Adventgeschichte.
Ich mag das fragile und mehrdeutige Schreiben von Ilse Aichinger, sie geht behutsam vor und formuliert auch den Zweifel. Die Weihnachtszeit aus der Perspektive einer jüdischen Familie zu sehen weitet den Blick und erzählt gleichzeitig vom Dabeisein und der Skepsis dieser Erfahrung gegenüber. Sie trifft mit Worten und eröffnet Welten des Sehens und Verstehens, denn da ist Begeisterung und Zweifel zugleich.